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Der Psychiater Eugen Bleuler prägte den Begriff „Autismus“ ursprünglich für die Charakterisierung der „Selbstbezogenheit“ und „Abwendung von der äußeren Welt“ schizophrener Patienten. Leo Kanner und Hans Asperger (1943/1944) verwendeten den Begriff zur Beschreibung auffälliger Verhaltensweisen von Kindern.

Die „Internationale Klassifikation psychischer Störungen/ICD-10“ ordnet Autismus den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zu und unterteilt in

  • Frühkindlichen Autismus,
  • atypischen Autismus und das
  • Asperger-Syndrom.


In der bereits veröffentlichten 11. Revision der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen/ICD-11“ gibt es die Unterteilung nicht mehr.
Der Begriff Autismus-Spektrum-Störung wird vom „Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen/DSM-V“ der „American Psychiatric Association“ übernommen.

Nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen: ICD

Die in Deutschland aktuell noch gültigen Diagnosekriterien der ICD-10 ordnen Autismus den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zu.
 

Kernsymptome sind qualitative Beeinträchtigungen

  • in der sozialen Interaktion,
  • im Bereich der Kommunikation sowie
  • eingeschränkte, stereotype und sich wiederholende Interessen und/oder Aktivitäten.


Autismus liegt dann vor, wenn in diesen drei Bereichen Auffälligkeiten seit der frühen Kindheit bestehen. Dabei kann der Ausprägungsgrad der Symptome sehr unterschiedlich sein.

 

Nach dem „Diagnostischen und Statistischen Manual“ DSM-V und der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“ ICD-11

An den in Amerika gültigen Diagnosekriterien (DSM-V) orientiert sich die Weiterentwicklung der ICD-10 (zukünftig ICD-11), die in den nächsten Jahren in Deutschland eingeführt wird.
 

A-Kriterium: Die Kernsymptome der qualitativen Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und Kommunikation sind zu einem Merkmal zusammengefasst.
 

B-Kriterium: Interessen und Aktivitäten sind beschränkt bzw. es zeigt sich ein wiederholendes Muster im Verhalten. Zusätzlich werden sensorische Besonderheiten (Hyper- und/oder Hyporeaktivität) oder ungewöhnliches Interesse an bestimmten sensorischen Reizen benannt.
 

Das C- und D-Kriterium fordern

  • das Auftreten der Symptome in der frühen Kindheit (gegebenenfalls zeigen sie sich erst bei entsprechenden sozialen Anforderungen) und
  • eine Beeinträchtigung in der Alltagsbewältigung.


Liegen die Kernsymptome vor, wird von einer Autismus-Spektrum-Störung gesprochen, die durch verschiedene Schweregrade und Ko-Morbiditäten  näher beschrieben wird.

Es gibt je drei Schweregrade für die Symptome:

  • Soziale Kommunikation und Interaktion
  • Restriktive, repetitive Verhaltensweisen und Interessen


Die Schweregrade werden unterteilt in:

  • Mit/ohne geistige Behinderung (aus S3 LL)
  • Mit/ohne Sprachstörung (aus S3 LL)
  • benötigt Unterstützung, benötigt weitgehende/ -weitestgehende Unterstützung (nach DSM V)

Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) lassen sich in der Regel bereits zwischen dem 18. und 36. Lebensmonat diagnostizieren. Jedoch können die Symptome beispielsweise aufgrund ungünstiger psychosozialer Bedingungen bzw. bei guter sozialer Anpassungsfähigkeit latent vorhanden sein, bis zu dem Zeitpunkt, bei dem soziale Anforderungen die beschränkten Fähigkeiten überfordern.


Da frühe Hilfen eine positive Entwicklung unterstützen, ist die frühe Diagnose von großer Bedeutung.

Bei Kleinkindern:

18 bis 24 Monate

Rückschritt oder Verlust bereits erworbener Fähigkeiten in der Sprache oder sozialen Interaktion, bei denen die Eltern zunehmend Sorgen zur Entwicklung ihres Kindes äußern.

  • fehlendes oder verringertes Verfolgen der Blickrichtung einer anderen Person
  • geringes oder fehlendes „Als-ob“-Spiel
  • mangelnder oder fehlender Blickkontakt
  • fehlendes Bringen, um Gegenstände zu zeigen
  • seltenes oder fehlendes Zeigen mit dem Finger, um eine andere Person auf etwas aufmerksam zu machen
  • abgeschwächte oder fehlende Reaktion auf das Gerufen-Werden mit dem eigenen Namen
  • fehlende mimische Reaktion oder fehlender Blickkontakt auf Schmerzäußerungen anderer Menschen


Ab 24 Monate

Rückschritt oder Verlust bereits erworbener Fähigkeiten in der Sprache oder sozialen Interaktion, bei denen die Eltern zunehmend Sorgen zur Entwicklung ihres Kindes äußern.

  • mangelnder oder fehlender Blickkontakt
  • fehlendes Bringen, um etwas zu zeigen
  • geringes oder fehlendes „Als-ob“-Spiel
  • keine Zeigegeste, um Interesse zu zeigen

 

Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

Liegt eines der drei folgenden Schlüsselsymptome vor, sind weitere diagnostische Schritte in Erwägung zu ziehen:

  • anhaltende Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion
  • anhaltende Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation
  • Verhaltensweisen werden stetig oder gleichbleibend wiederholt, es besteht starker Widerstand bei Veränderungen (z. B. Vorlieben für bestimmte Ernährung, Änderung des Tagesablaufes oder von Bezugspersonen) eingeschränkte Interessen.
  1. Grundlage für eine Diagnose ist der Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung.
  2. Liegt ein begründeter Verdacht vor, sollte zunächst ein „Screening“ durch entsprechende Fachkräfte durchgeführt werden. Dies kann zum Beispiel die Kontakt- und Beratungsstelle von autkom übernehmen.
  3. Bestätigt sich der Verdacht, soll die weitere Diagnostik durch eine „spezialisierte Stelle“ erfolgen.


Für eine valide Diagnose sind erforderlich:

  • eine sorgfältige und längerfristige Verhaltensbeobachtung und
  • ausführliche Gespräche, zum Beispiel mit Eltern und Bezugspersonen.


Die Diagnostik umfasst

  • die Erhebung einer ausführlichen Anamnese (unter Beiziehung möglichst aller vorhandenen Informationen, auch von Bezugspersonen);
  • eine sorgfältige Verhaltensbeobachtung (unter Umständen auch stationär);
  • die Anwendung psychologischer Testverfahren wie ADI-R und ADOS, die aber mangels ausreichender Spezifität ohne die oben genannten Maßnahmen für eine valide Diagnostik keinesfalls ausreichend und ggf. verzichtbar sind.


Die Diagnostik sollte entweder in einem ausgewiesenen Zentrum (Klinik) oder durch erfahrene Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. (bei Erwachsenen) für Psychiatrie und Psychotherapie in Zusammenarbeit mit Psychologen und Therapeuten durchgeführt werden.


Erkennung und Untersuchung bei Erwachsenen

Ist eine Autismus-Spektrum-Störung nicht bereits im Kindesalter festgestellt worden, ist das Stellen der Diagnose aufgrund der Komplexität eine große Herausforderung. Häufig wird professionelle Hilfe wegen anderer medizinischer oder psychischer Probleme gesucht. Komorbide psychiatrische Störungen, z. B. Depression und Schizophrenie erschweren oft die diagnostische Abklärung in der Praxis.

Wechselseitige, soziale Interaktion: Auffälligkeiten, zum Beispiel in den Bereichen

  • Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik:
    wenig sozial moduliertes nonverbales Verhalten
  • soziale Beziehungen
    - zeigen wenig Interesse an Gleichaltrigen
    - bei Kindern: kein Interesse an Rollenspielen und an Phantasiespielen mit Gleichaltrigen
    - fehlende Reaktion oder Überreaktion auf Annäherungsversuche anderer
    - unangemessene Kontaktaufnahme
    - Schwierigkeiten, Freundschaften einzugehen
  • sozio-emotionale Gegenseitigkeit
    - oft nicht erkennbare oder nachvollziehbare Reaktion auf die Emotionen anderer
    - das Verhalten wird häufig nicht angemessen an den sozialen Kontext angepasst
  • geteilte Aufmerksamkeit und Freude:
    Aufmerksamkeit anderer wird nicht auf Dinge gelenkt, um diese zu teilen
  • kein spontanes Imitieren der Handlungen anderer


Kommunikation und Sprache: Qualitative Auffälligkeiten, beispielsweise

  • stereotype, repetitive oder eigentümliche sprachliche Äußerungen
    - Neologismen
    - Echolalie
  • kein sprachlicher Austausch im Sinne einer informellen Konversation
    - Vertauschen von Personalpronomina
  • rhythmische und melodische Aspekte der Sprache: Intonation und Sprechweise
  • Pragmatik:
    - Schwierigkeiten im Sprachverständnis
    - erschwertes Verständnis von sozialen Regeln
  • Je nach Ausprägungsgrad:
    - keine oder unverständliche Sprache
    - keine Kompensation der mangelnden Sprachfähigkeit durch Mimik oder Gestik


Begrenzte, sich wiederholende Verhaltensmuster und eingeschränktes Interesse

  • Festhalten an spezifischen, nicht-funktionalen Handlungen und Ritualen
  • Veränderungsängste
  • sensorische Über- oder Unterempfindlichkeit
  • unnatürliche Bewegungsabläufe
  • vorrangig Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen des Spielmaterials
  • Spielverhalten: funktionell, sensomotorisch, stereotyp, kein interaktives Spiel, kein symbolisches Als-Ob-Spiel, Interesse an Teilen vom Spielmaterial

Hierzu gibt es aufgrund der vermutet hohen Dunkelziffern sehr unterschiedliche Angaben, die von 0,1 bis zu über 1 Prozent der Bevölkerung bezüglich Störungen innerhalb des Autismus-Spektrum reichen.

Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft sind Autismus-Spektrum-Störungen nicht „heilbar“, auch wenn auf diesem Gebiet intensiv geforscht wird. Durch geeignete und möglichst früh einsetzende Therapien können jedoch erhebliche Verbesserungen der autismusspezifischen Merkmale und damit eine verbesserte Lebensqualität sowohl für den Menschen mit der Diagnose Autismus als auch sein Umfeld erreicht werden.

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Merkmale der Autismus-Spektrum-Störung

Diese Broschüre informiert Sie über Kernsymptome, unterschiedliche Formen von Autismus, das Vorgehen bei der Diagnostik und Kriterien für die Diagnose.

kbo-Broschüre

„Unsere Angebote und Leistungen für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung“